PR-Kritiker Albrecht Müller
"Wir haben keine demokratischen Verhältnisse mehr"
Früher machte er Wahlkampf für Willy Brandt, heute warnt er mit Büchern wie "Meinungsmache" vor Lobbyismus. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview erklärt Albrecht Müller, warum die Demokratie in Deutschland in Gefahr ist - und warum die SPD ihre wirtschaftspolitischen Chancen verspielt.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Bücher heißen "Reformlüge", "Machtwahn" und jetzt "Meinungsmache" - können Sie eigentlich nur negativ?
Müller: Der Ursprungstitel für das neue Buch war ja positiv. Ich wollte, dass es "Die Lust, selbst zu denken" heißt. Aber der Verlag hat auf den Titel "Meinungsmache" gedrängt.
SPIEGEL ONLINE: Weil sich schlechte Nachrichten in Deutschland besser verkaufen?
Müller: Glaube ich nicht. Mein erstes Buch "Die Reformlüge" habe ich mehreren Verlagen wie Sauerbier angeboten. Alle haben gesagt: Bücher über Wirtschaft laufen nicht. Trotzdem ist es ein Bestseller geworden - weil es einfach Aufklärungsbedarf gibt.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind ein Aufklärer?
Müller: Ich schreibe für Menschen, die über volkswirtschaftliche Zusammenhänge rätseln, und deshalb Opfer von Meinungsmache werden. Ein Beispiel: Die "Bild"-Zeitung zitiert eine Studie des Freiburger Finanzwissenschaftlers Raffelhüschen, derzufolge jedem Zweiten Altersarmut droht. Aber sie schreiben nicht, dass die Studie von einer Versicherung finanziert worden ist und dass sie auf irreführenden demografischen Berechnungen beruht -, weil beispielsweise der weitere Anstieg der Arbeitsproduktivität ausgeklammert bleibt. Ich weise in meinen Büchern und in unserem Blog darauf hin, dass man die Leistungen der gesetzlichen Rente über Jahre ganz bewusst reduziert hat, um den Privatversorgern Geschäftsfelder zu eröffnen.
SPIEGEL ONLINE: Der demografische Wandel gilt doch als unumstößliche Tatsache.
Müller: Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Meinungsmache funktioniert. Wir wissen seit dem Pillenknick - zwischen 1965 und 1975 -, dass es mehr alte Menschen geben wird. Trotzdem haben wir kein Vergreisungsproblem. Die Alterung im letzten Jahrhundert war größer als sie in diesem sein wird, das kann man heute schon sagen. Aber wenn ich Stratege der Versicherungswirtschaft wäre, würde ich auch so vorgehen: Ein demografisches Problem herbeischreiben und gleichzeitig die Propaganda verbreiten, nur die Privatvorsorge könnte uns heraushelfen. Kann sie aber nicht! Dadurch, dass ich mich bei der Allianz statt bei der Deutschen Rentenversicherung versichere, werden ja nicht mehr Kinder geboren.
SPIEGEL ONLINE: Aber da sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern verschlechtert, ist es doch sinnvoll, wenn die Babyboomer-Generation zusätzlich privat vorsorgt. Oder ist das auch Meinungsmache?
Müller: Ja, denn die entscheidende Frage ist: Kriegen wir genug Menschen in Arbeit und arbeiten diese Menschen produktiv? Wie man es dreht und wendet, am Ende muss ohnehin die arbeitende Generation für die nichtarbeitende Generation aufkommen. Und da sind die gesetzliche Rente und das Umlageverfahren eindeutig das effizienteste und sicherste System der Altersversorgung.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Müller: Ganz einfach: Man braucht einen Computer, um die Beiträge ein- und die Renten auszubuchen, dazu noch ein paar Leute, die das bearbeiten, das kostet ungefähr anderthalb Prozent der Beiträge. Bei der Riester-Rente braucht es zusätzlich Heerscharen von Verkäufern und Werbe-Etats - und die Versicherungen wollen daran verdienen. Deshalb kostet diese Form der Altersversorgung bis zu 20 Prozent der Beiträge. Die müssen auf den Finanzmärkten erwirtschaftet werden. Wenn mit den angesammelten Rentenbeiträgen spekuliert wird, kann es uns gehen wie in Chile. Da ist die Privatisierung der Altersversorgung in eine Katastrophe gemündet und der Staat musste nachfinanzieren.
SPIEGEL ONLINE: Obwohl Sie an der SPD kein gutes Haar lassen, sind Sie immer noch Mitglied. Wie kommt das?
Müller: Weil es an der Basis der SPD so viele Leute gibt, die engagiert und qualifiziert sind. Wie lange noch, ist allerdings ungewiss.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie der heimliche Held der SPD-Basis?
Müller: Ich habe sieben Jahre lang eine Kolumne im "Vorwärts" geschrieben - "Gegen den Strom". Dann hat man mich dort rausgeworfen, weil der Parteiführung mein Buch "Die Reformlüge" nicht passte. Aber es gibt viele andere Helden. Immerhin war ich 1972 beim Bundeswahlkampf für Willy Brandt mitverantwortlich für das beste Wahlergebnis der SPD - 45,8 Prozent. Vielleicht reicht es diesmal noch für die Hälfte.
SPIEGEL ONLINE: Im Grunde sind aber alle Ihre Bücher eine Wahlempfehlung für die Linke.
Müller: Wenn die SPD nicht zur Besinnung kommt, ist es doch verständlich, dass die Enttäuschten die Linke stärken. Schauen Sie sich das "Arbeit von Morgen"-Papier von Steinmeier an: Die SPD versteht nichts mehr von Konjunkturpolitik. Das was nötig wäre, nämlich ein massiver konjunkturpolitischer Anschub, findet nicht statt. Stattdessen wollen sie einzelne Technologien entwickeln, Breitbrandnetze und so weiter. Manches mag ja sinnvoll sein. Aber dieses Interventionsprogramm ist nicht die passende Antwort auf die Nachfrageschwäche, die nahezu alle Unternehmen am Einbruch ihrer Aufträge ablesen können. Da wir nun mal in einer marktwirtschaftlich geprägten Volkswirtschaft leben, sage ich: Leute, schiebt doch endlich mal insgesamt die Konjunktur an, damit der Kneipier, der Handwerker, der Binnenmarkt-Unternehmer, damit alle mehr zu tun haben. Das fehlt, und deshalb bin ich betroffen, dass eine Partei diese Chance nicht nutzt, die das bei der ersten Rezession von 1966 bis 1968 meisterhaft gemacht hat. Die jetzige SPD-Führung verspielt auch damit eine Tradition wirtschaftspolitischer Kompetenz, auf die sie stolz sein könnte.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Lieblingsfeind Peer Steinbrück hat immerhin eine Offensive gegen Steueroasen angekündigt, die Ihnen eigentlich sympathisch sein müsste. Oder nicht?
Müller: Doch, wenn das ernst gemeint ist, hat er meine Sympathie.
SPIEGEL ONLINE: Aber Sie glauben ihm nicht.
Müller: Ich glaube ihm fast nichts. Er ist ein begnadeter Öffentlichkeitsarbeiter. Man sieht ihn immer als kantigen, entschlossenen Minister, offensichtlich hat er eine gute PR-Agentur. Überhaupt ist die Ausweitung der PR-Wirtschaft für die Meinungsmache entscheidend.
SPIEGEL ONLINE: Was ist verwerflich daran, einen Politiker schlau zu inszenieren? Sie haben das in den Siebzigern als Wahlkämpfer und Planer für Willy Brandt doch auch gemacht.
Müller: Was mich stört ist, dass es heute ohne Widerspruch geschieht. PR gab es auch in den Siebzigern, aber es gab eben auch eine kritische Begleitung. Die kritischen Medien sind aber so geschrumpft, dass sie keine wichtige Kraft mehr darstellen.
SPIEGEL ONLINE: Und woran liegt das? Sind wir Journalisten zu unkritisch geworden?
Müller: Zum einen liegt es an der fortgeschrittenen Konzentration der Medienbranche. Der Fernsehmarkt ist mittlerweile klar aufgeteilt: Bertelsmann hat die RTL Group, dann gibt es noch die ProSiebenSat.1 Media, die Finanzinvestoren gehört. Und bei den Öffentlich-Rechtlichen haben die Lobbyisten der neoliberal eingefärbten Verbandswirtschaft übergroßen Einfluss. Wenn es mal einen kritischen Beitrag gibt, rufen sofort die Mahner vom BDI oder der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft beim Intendanten an. Und in den Talkshows ist man immer mit einer Übermacht von Neoliberalen konfrontiert - Utz Claassen, Meinhard Miegel, Raffelhüschen, Sinn, Olaf Henkel, Leute, von denen ich kein Butterbrot annehmen würde! Der ehemalige Finanzminister Hans Eichel hatte denselben PR-Berater wie Sabine Christiansen. Alle dominanten Sendungen werden beherrscht von einem Geflecht aus Politik und Lobbyismus.
SPIEGEL ONLINE: Nun ist es aber nicht so, dass der Öffentlichkeit vorenthalten würde, dass es Ungerechtigkeit in Deutschland gibt. Das Gegenüberstellen von exorbitanten Managergehältern und Dumpinglöhnen von drei, vier Euro pro Stunde, das taucht doch ständig in den Medien auf - von der "Financial Times Deutschland" bis zum Boulevardmagazin im Fernsehen.
Müller: Ich bestreite ja nicht, dass es aufklärerische Artikel oder Radio- und Fernsehbeiträge gibt. Einige Kollegen von "Monitor", "Plusminus" oder "Zapp" leisten tolle Arbeit - das gilt auch für den SPIEGEL, etwa für die Beiträge über die Hypo Real Estate oder den US-Versicherer AIG. Die fand ich informativ und kritisch. Aber - das sehen wir gerade am Beispiel Finanzkrise - diese wenigen Medienereignisse sind nicht relevant für das, was geschieht. Faktisch haben wir 480 Milliarden Euro als Bankenrettungsschirm aufgespannt - wohlwissend, dass davon indirekt Milliarden auch an die Allianz und die Deutsche Bank fließen, weil der Staat die Verbindlichkeiten ihrer Schuldner übernimmt.
SPIEGEL ONLINE: Nun ist aber doch der Finanzmarkt dank immer neuer, verzweigter Produkte so unübersichtlich für Nicht-Insider, dass wir uns gar nicht leisten können, die Finanzakrobaten zum Teufel zu jagen. Müssen wir nicht aus Sachzwang den Bock zum Gärtner machen?
Müller: Nur, wenn man das Casino weiterführen will. Wenn man allerdings keinen Sinn darin sieht, immer wieder neue öffentliche und private Unternehmen wie bisher Telekom und Post, Boss, Märklin oder Grohe steuerbegünstigt an sogenannte Investoren zu verscherbeln und stattdessen sagt: Wir müssen diese Unternehmen schützen und stabilisieren; wenn man nicht will, dass sie über den Kapitalmarkt neu verschoben werden, dann braucht man weder diese Investmentfirmen noch ihre Berater. Wenn man nicht will, dass Dresden seine Wohnungsbestände verscherbelt, die Stadt Leipzig ihre Stadtwerke und Braunschweig seine Abfallwirtschaft, dann braucht man den weit überdehnten Kapitalmarkt nicht.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie ein Systemkritiker?
Müller: Nein, aber das System ist total korrumpiert. Das Prinzip Marktwirtschaft ist an sich eine vernünftige Organisationsform für Teile der Gesellschaft. Die Produktion von Gütern und Diensten, die privat gemacht werden können, sollte man über marktwirtschaftliche Prozesse organisieren. Aber der öffentliche Bereich sollte deutlich größer sein. Ich würde keinen Deut an Bildungseinrichtungen aus der öffentlichen Verantwortung geben, auch die sozialen Dienste nicht, ebenso alle Verkehrsaufgaben. Die Privatisierung ist zu weit getrieben worden.
SPIEGEL ONLINE: Was ist also ihre Analyse: Herrschen bei uns die Reichen oder die Inkompetenten?
Müller: In jedem Fall leben wir in einer Gesellschaft, die in den letzten zwei Jahrzehnten entscheidend von der Ideologie des Washington Consensus, der neoliberalen Ideologie, geprägt worden ist, mit den Merkmalen: Verarmung des Staates, Privatisierung und Deregulierung. Diese Ideologie war meinungsführend und gleichzeitig in weiten Teilen nicht durchdacht. Etwa, dass durch Deregulierung Arbeit geschaffen und die Wirtschaft belebt würde, das stimmt einfach nicht, das hat nirgendwo funktioniert.
SPIEGEL ONLINE: Würden Sie behaupten, unser politisches System ist in der Herrschaft von Oligarchen?
Müller: Nun, Italien wird bereits von einem Oligarchen regiert, von Berlusconi. Ich würde mit Peter Glotz vor der Berlusconisierung der Bundesrepublik warnen. Es ist schon so, dass die Medienkonzerne wie Bertelsmann im Verein mit den Banken wesentlich bestimmen, was bei uns geschieht. Das habe ich in meinen Büchern an vielen Beispielen gezeigt.
SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten gerne mit derselben Sorte von Dramatisierung, die sie ihren Gegnern vorwerfen - wenn Sie zum Beispiel am Ende ihres Buches ausrufen: "Wir sind in Not!"
Müller: Nein, wir sind wirklich in Not, jedenfalls was die demokratische Willensbildung betrifft. Fühlen Sie sich nicht ohnmächtig, wenn Sie sehen, wie ihre Steuergelder und die Ihrer Kinder verpulvert werden an Leute, die für eine Bank arbeiten, die eigentlich schon bankrott ist, und die damit an ihre Manager Boni in Milliardenhöhe bezahlt? Das sind Ungeheuerlichkeiten, angesichts derer man doch nur noch ausrufen kann: Wir sind in Not! Die Sanktionierung in Deutschland funktioniert nämlich nicht mehr. Wer falsch regiert, wer uns massiv schadet und belastet, muss nicht mit Strafe rechnen. Er muss nur die Meinungsmache zu seinen Gunsten perfekt organisieren. Wir haben keine demokratischen Verhältnisse mehr. Und wir haben noch Glück, dass bisher kein Rechtsradikaler aufgetaucht ist, der klug genug ist, aus dem Ärger darüber politisches Kapital zu schlagen.
SPIEGEL ONLINE: Wären Sie gerne wieder Politiker?
Müller: Ach, jetzt bin ich schon so alt. Ich mache gerne das, was ich jetzt mache. Mit meinen Büchern und unserem Blog "NachDenkSeiten" bin ich heute wahrscheinlich so einflussreich, wie ich es nicht mal als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt war.
"Wir haben keine demokratischen Verhältnisse mehr"
Früher machte er Wahlkampf für Willy Brandt, heute warnt er mit Büchern wie "Meinungsmache" vor Lobbyismus. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview erklärt Albrecht Müller, warum die Demokratie in Deutschland in Gefahr ist - und warum die SPD ihre wirtschaftspolitischen Chancen verspielt.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Bücher heißen "Reformlüge", "Machtwahn" und jetzt "Meinungsmache" - können Sie eigentlich nur negativ?
Müller: Der Ursprungstitel für das neue Buch war ja positiv. Ich wollte, dass es "Die Lust, selbst zu denken" heißt. Aber der Verlag hat auf den Titel "Meinungsmache" gedrängt.
SPIEGEL ONLINE: Weil sich schlechte Nachrichten in Deutschland besser verkaufen?
Müller: Glaube ich nicht. Mein erstes Buch "Die Reformlüge" habe ich mehreren Verlagen wie Sauerbier angeboten. Alle haben gesagt: Bücher über Wirtschaft laufen nicht. Trotzdem ist es ein Bestseller geworden - weil es einfach Aufklärungsbedarf gibt.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind ein Aufklärer?
Müller: Ich schreibe für Menschen, die über volkswirtschaftliche Zusammenhänge rätseln, und deshalb Opfer von Meinungsmache werden. Ein Beispiel: Die "Bild"-Zeitung zitiert eine Studie des Freiburger Finanzwissenschaftlers Raffelhüschen, derzufolge jedem Zweiten Altersarmut droht. Aber sie schreiben nicht, dass die Studie von einer Versicherung finanziert worden ist und dass sie auf irreführenden demografischen Berechnungen beruht -, weil beispielsweise der weitere Anstieg der Arbeitsproduktivität ausgeklammert bleibt. Ich weise in meinen Büchern und in unserem Blog darauf hin, dass man die Leistungen der gesetzlichen Rente über Jahre ganz bewusst reduziert hat, um den Privatversorgern Geschäftsfelder zu eröffnen.
SPIEGEL ONLINE: Der demografische Wandel gilt doch als unumstößliche Tatsache.
Müller: Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Meinungsmache funktioniert. Wir wissen seit dem Pillenknick - zwischen 1965 und 1975 -, dass es mehr alte Menschen geben wird. Trotzdem haben wir kein Vergreisungsproblem. Die Alterung im letzten Jahrhundert war größer als sie in diesem sein wird, das kann man heute schon sagen. Aber wenn ich Stratege der Versicherungswirtschaft wäre, würde ich auch so vorgehen: Ein demografisches Problem herbeischreiben und gleichzeitig die Propaganda verbreiten, nur die Privatvorsorge könnte uns heraushelfen. Kann sie aber nicht! Dadurch, dass ich mich bei der Allianz statt bei der Deutschen Rentenversicherung versichere, werden ja nicht mehr Kinder geboren.
SPIEGEL ONLINE: Aber da sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern verschlechtert, ist es doch sinnvoll, wenn die Babyboomer-Generation zusätzlich privat vorsorgt. Oder ist das auch Meinungsmache?
Müller: Ja, denn die entscheidende Frage ist: Kriegen wir genug Menschen in Arbeit und arbeiten diese Menschen produktiv? Wie man es dreht und wendet, am Ende muss ohnehin die arbeitende Generation für die nichtarbeitende Generation aufkommen. Und da sind die gesetzliche Rente und das Umlageverfahren eindeutig das effizienteste und sicherste System der Altersversorgung.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
Müller: Ganz einfach: Man braucht einen Computer, um die Beiträge ein- und die Renten auszubuchen, dazu noch ein paar Leute, die das bearbeiten, das kostet ungefähr anderthalb Prozent der Beiträge. Bei der Riester-Rente braucht es zusätzlich Heerscharen von Verkäufern und Werbe-Etats - und die Versicherungen wollen daran verdienen. Deshalb kostet diese Form der Altersversorgung bis zu 20 Prozent der Beiträge. Die müssen auf den Finanzmärkten erwirtschaftet werden. Wenn mit den angesammelten Rentenbeiträgen spekuliert wird, kann es uns gehen wie in Chile. Da ist die Privatisierung der Altersversorgung in eine Katastrophe gemündet und der Staat musste nachfinanzieren.
SPIEGEL ONLINE: Obwohl Sie an der SPD kein gutes Haar lassen, sind Sie immer noch Mitglied. Wie kommt das?
Müller: Weil es an der Basis der SPD so viele Leute gibt, die engagiert und qualifiziert sind. Wie lange noch, ist allerdings ungewiss.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie der heimliche Held der SPD-Basis?
Müller: Ich habe sieben Jahre lang eine Kolumne im "Vorwärts" geschrieben - "Gegen den Strom". Dann hat man mich dort rausgeworfen, weil der Parteiführung mein Buch "Die Reformlüge" nicht passte. Aber es gibt viele andere Helden. Immerhin war ich 1972 beim Bundeswahlkampf für Willy Brandt mitverantwortlich für das beste Wahlergebnis der SPD - 45,8 Prozent. Vielleicht reicht es diesmal noch für die Hälfte.
SPIEGEL ONLINE: Im Grunde sind aber alle Ihre Bücher eine Wahlempfehlung für die Linke.
Müller: Wenn die SPD nicht zur Besinnung kommt, ist es doch verständlich, dass die Enttäuschten die Linke stärken. Schauen Sie sich das "Arbeit von Morgen"-Papier von Steinmeier an: Die SPD versteht nichts mehr von Konjunkturpolitik. Das was nötig wäre, nämlich ein massiver konjunkturpolitischer Anschub, findet nicht statt. Stattdessen wollen sie einzelne Technologien entwickeln, Breitbrandnetze und so weiter. Manches mag ja sinnvoll sein. Aber dieses Interventionsprogramm ist nicht die passende Antwort auf die Nachfrageschwäche, die nahezu alle Unternehmen am Einbruch ihrer Aufträge ablesen können. Da wir nun mal in einer marktwirtschaftlich geprägten Volkswirtschaft leben, sage ich: Leute, schiebt doch endlich mal insgesamt die Konjunktur an, damit der Kneipier, der Handwerker, der Binnenmarkt-Unternehmer, damit alle mehr zu tun haben. Das fehlt, und deshalb bin ich betroffen, dass eine Partei diese Chance nicht nutzt, die das bei der ersten Rezession von 1966 bis 1968 meisterhaft gemacht hat. Die jetzige SPD-Führung verspielt auch damit eine Tradition wirtschaftspolitischer Kompetenz, auf die sie stolz sein könnte.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Lieblingsfeind Peer Steinbrück hat immerhin eine Offensive gegen Steueroasen angekündigt, die Ihnen eigentlich sympathisch sein müsste. Oder nicht?
Müller: Doch, wenn das ernst gemeint ist, hat er meine Sympathie.
SPIEGEL ONLINE: Aber Sie glauben ihm nicht.
Müller: Ich glaube ihm fast nichts. Er ist ein begnadeter Öffentlichkeitsarbeiter. Man sieht ihn immer als kantigen, entschlossenen Minister, offensichtlich hat er eine gute PR-Agentur. Überhaupt ist die Ausweitung der PR-Wirtschaft für die Meinungsmache entscheidend.
SPIEGEL ONLINE: Was ist verwerflich daran, einen Politiker schlau zu inszenieren? Sie haben das in den Siebzigern als Wahlkämpfer und Planer für Willy Brandt doch auch gemacht.
Müller: Was mich stört ist, dass es heute ohne Widerspruch geschieht. PR gab es auch in den Siebzigern, aber es gab eben auch eine kritische Begleitung. Die kritischen Medien sind aber so geschrumpft, dass sie keine wichtige Kraft mehr darstellen.
SPIEGEL ONLINE: Und woran liegt das? Sind wir Journalisten zu unkritisch geworden?
Müller: Zum einen liegt es an der fortgeschrittenen Konzentration der Medienbranche. Der Fernsehmarkt ist mittlerweile klar aufgeteilt: Bertelsmann hat die RTL Group, dann gibt es noch die ProSiebenSat.1 Media, die Finanzinvestoren gehört. Und bei den Öffentlich-Rechtlichen haben die Lobbyisten der neoliberal eingefärbten Verbandswirtschaft übergroßen Einfluss. Wenn es mal einen kritischen Beitrag gibt, rufen sofort die Mahner vom BDI oder der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft beim Intendanten an. Und in den Talkshows ist man immer mit einer Übermacht von Neoliberalen konfrontiert - Utz Claassen, Meinhard Miegel, Raffelhüschen, Sinn, Olaf Henkel, Leute, von denen ich kein Butterbrot annehmen würde! Der ehemalige Finanzminister Hans Eichel hatte denselben PR-Berater wie Sabine Christiansen. Alle dominanten Sendungen werden beherrscht von einem Geflecht aus Politik und Lobbyismus.
SPIEGEL ONLINE: Nun ist es aber nicht so, dass der Öffentlichkeit vorenthalten würde, dass es Ungerechtigkeit in Deutschland gibt. Das Gegenüberstellen von exorbitanten Managergehältern und Dumpinglöhnen von drei, vier Euro pro Stunde, das taucht doch ständig in den Medien auf - von der "Financial Times Deutschland" bis zum Boulevardmagazin im Fernsehen.
Müller: Ich bestreite ja nicht, dass es aufklärerische Artikel oder Radio- und Fernsehbeiträge gibt. Einige Kollegen von "Monitor", "Plusminus" oder "Zapp" leisten tolle Arbeit - das gilt auch für den SPIEGEL, etwa für die Beiträge über die Hypo Real Estate oder den US-Versicherer AIG. Die fand ich informativ und kritisch. Aber - das sehen wir gerade am Beispiel Finanzkrise - diese wenigen Medienereignisse sind nicht relevant für das, was geschieht. Faktisch haben wir 480 Milliarden Euro als Bankenrettungsschirm aufgespannt - wohlwissend, dass davon indirekt Milliarden auch an die Allianz und die Deutsche Bank fließen, weil der Staat die Verbindlichkeiten ihrer Schuldner übernimmt.
SPIEGEL ONLINE: Nun ist aber doch der Finanzmarkt dank immer neuer, verzweigter Produkte so unübersichtlich für Nicht-Insider, dass wir uns gar nicht leisten können, die Finanzakrobaten zum Teufel zu jagen. Müssen wir nicht aus Sachzwang den Bock zum Gärtner machen?
Müller: Nur, wenn man das Casino weiterführen will. Wenn man allerdings keinen Sinn darin sieht, immer wieder neue öffentliche und private Unternehmen wie bisher Telekom und Post, Boss, Märklin oder Grohe steuerbegünstigt an sogenannte Investoren zu verscherbeln und stattdessen sagt: Wir müssen diese Unternehmen schützen und stabilisieren; wenn man nicht will, dass sie über den Kapitalmarkt neu verschoben werden, dann braucht man weder diese Investmentfirmen noch ihre Berater. Wenn man nicht will, dass Dresden seine Wohnungsbestände verscherbelt, die Stadt Leipzig ihre Stadtwerke und Braunschweig seine Abfallwirtschaft, dann braucht man den weit überdehnten Kapitalmarkt nicht.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie ein Systemkritiker?
Müller: Nein, aber das System ist total korrumpiert. Das Prinzip Marktwirtschaft ist an sich eine vernünftige Organisationsform für Teile der Gesellschaft. Die Produktion von Gütern und Diensten, die privat gemacht werden können, sollte man über marktwirtschaftliche Prozesse organisieren. Aber der öffentliche Bereich sollte deutlich größer sein. Ich würde keinen Deut an Bildungseinrichtungen aus der öffentlichen Verantwortung geben, auch die sozialen Dienste nicht, ebenso alle Verkehrsaufgaben. Die Privatisierung ist zu weit getrieben worden.
SPIEGEL ONLINE: Was ist also ihre Analyse: Herrschen bei uns die Reichen oder die Inkompetenten?
Müller: In jedem Fall leben wir in einer Gesellschaft, die in den letzten zwei Jahrzehnten entscheidend von der Ideologie des Washington Consensus, der neoliberalen Ideologie, geprägt worden ist, mit den Merkmalen: Verarmung des Staates, Privatisierung und Deregulierung. Diese Ideologie war meinungsführend und gleichzeitig in weiten Teilen nicht durchdacht. Etwa, dass durch Deregulierung Arbeit geschaffen und die Wirtschaft belebt würde, das stimmt einfach nicht, das hat nirgendwo funktioniert.
SPIEGEL ONLINE: Würden Sie behaupten, unser politisches System ist in der Herrschaft von Oligarchen?
Müller: Nun, Italien wird bereits von einem Oligarchen regiert, von Berlusconi. Ich würde mit Peter Glotz vor der Berlusconisierung der Bundesrepublik warnen. Es ist schon so, dass die Medienkonzerne wie Bertelsmann im Verein mit den Banken wesentlich bestimmen, was bei uns geschieht. Das habe ich in meinen Büchern an vielen Beispielen gezeigt.
SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten gerne mit derselben Sorte von Dramatisierung, die sie ihren Gegnern vorwerfen - wenn Sie zum Beispiel am Ende ihres Buches ausrufen: "Wir sind in Not!"
Müller: Nein, wir sind wirklich in Not, jedenfalls was die demokratische Willensbildung betrifft. Fühlen Sie sich nicht ohnmächtig, wenn Sie sehen, wie ihre Steuergelder und die Ihrer Kinder verpulvert werden an Leute, die für eine Bank arbeiten, die eigentlich schon bankrott ist, und die damit an ihre Manager Boni in Milliardenhöhe bezahlt? Das sind Ungeheuerlichkeiten, angesichts derer man doch nur noch ausrufen kann: Wir sind in Not! Die Sanktionierung in Deutschland funktioniert nämlich nicht mehr. Wer falsch regiert, wer uns massiv schadet und belastet, muss nicht mit Strafe rechnen. Er muss nur die Meinungsmache zu seinen Gunsten perfekt organisieren. Wir haben keine demokratischen Verhältnisse mehr. Und wir haben noch Glück, dass bisher kein Rechtsradikaler aufgetaucht ist, der klug genug ist, aus dem Ärger darüber politisches Kapital zu schlagen.
SPIEGEL ONLINE: Wären Sie gerne wieder Politiker?
Müller: Ach, jetzt bin ich schon so alt. Ich mache gerne das, was ich jetzt mache. Mit meinen Büchern und unserem Blog "NachDenkSeiten" bin ich heute wahrscheinlich so einflussreich, wie ich es nicht mal als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt war.
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